Kim de l'Horizon: «Lieber John Unbekannt, lieber Ueli Maurer, ihr habt mich geschlagen. Aber ich vergebe euch»

Gerade hat Kim de l’Horizon den Deutschen Buchpreis für den Debütroman «Blutbuch» erhalten, dessen autobiografische Figur sich weder als Mann noch als Frau fühlt. Hier schreibt Kim de l’Horizon über einen Faustschlag in Berlin und über Bundesrat Ueli Maurer, der, wie er sagte, lieber kein «Es» als Nachfolger haben möchte.

Kim de l’Horizon
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«Kann es sein, dass genau das so bedrohlich ist? Dass hier ein Mensch steht, der nicht hineinpasst?», schreibt Kim de l'Horizon, hier fotografiert vor der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2022 im Frankfurter Römer.

«Kann es sein, dass genau das so bedrohlich ist? Dass hier ein Mensch steht, der nicht hineinpasst?», schreibt Kim de l'Horizon, hier fotografiert vor der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2022 im Frankfurter Römer.

Arne Dedert / dpa

Was mich bewegt, bewegt mich wider meinen Willen. Was mich bewegt, werde ich hier anhand meiner Erlebnisse eines bestimmten Tages – des 30. Septembers 2022 – aufzeigen. An diesem Tag bewegte mich morgens einer der ohnmächtigsten Männer Deutschlands und nachmittags einer der mächtigsten Männer der Schweiz. Die beiden Männer könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie verbindet nicht das Alter, nicht die Ethnie, nicht die Bildung, nicht die Klassenzugehörigkeit, nicht die politische Gesinnung und nicht die Art und Weise, wie sie mich bewegt haben. Es verbindet sie nichts, ausser, dass sie beide Männer sind und mich beide an diesem 30. September 2022 geschlagen haben.

Wobei – haben sie «mich» geschlagen? Oder nicht eher das, was ich für sie darstelle? Denn noch etwas Weiteres eint die beiden: Sie kennen mich nicht. Den Verdacht, dass sie mich wegen meines vielleicht miserablen Charakters schlagen wollten, kann ich also vom Tisch räumen.

Der erste Schlag kam schnell und gerade. Ich befand mich am 30. September für eine Lesung in Berlin. Mein Hotel lag nicht in einem der durchgentrifizierten Viertel. Um etwa 9 Uhr morgens machte ich mich auf den Weg, eine befreundete Person zum Kaffee zu treffen. Ich trug Jeans, Pulli und etwas Lippenstift. Ich fühlte mich schön, aber nicht zu schön. Beim Betreten der U-Bahn-Station in dem ziemlich durchmischten Viertel sah ich den Mann schon. Ich ging ans andere Ende des Bahnsteigs, vertiefte mich in mein Smartphone. Als die Bahn kam, sah ich auf, er schlug mir mit der Faust ins Gesicht, ich wankte, er sagte: «Normale Schwuchteln kann ich mittlerweile schlucken, aber du bist mir einfach zu viel», drehte sich um und ging die Treppe hinunter.

Wieso schlug mich der Mann? Nicht meiner Identität wegen, denn die sieht man nicht. Repräsentative Studien meines Alltags haben ergeben: Er bestrafte mich für den Lippenstift. Er bestrafte mich dafür, dass ich mir eine Schönheit jenseits des Erlaubten erlaubte. Er bestrafte mich dafür, dass ich mich frei bewegte.

Ein Schläger zwar, aber er lernt dazu

Ich werde den Mann nun möglichst neutral zu beschreiben versuchen, wobei «neutral» aus offensichtlichen Gründen schwierig ist. Alles, was ich, benommen vom Schlag, weiss, nutzt mein Bewusstsein natürlich, um den Mann in meine Weltanschauung einzuordnen. Deshalb werde ich meine persönliche Interpretation wiedergeben und nicht die erinnerten Fakten. Der Mann war arm, hatte Migrationshintergrund und wenig Zugang zu Bildung. Den genauen Wortlaut und seine Aussprache deute ich nicht, da dies aus meiner Perspektive – Schweizer und mit Zugang zu höherer Bildung – wertend und arrogant wirken würde.

Die Person, die ich danach traf, nenne ich hier Angel. Wir trafen uns in einem Berliner Kiez, in dem Menschen wie der erste Schläger – nennen wir ihn «John» – kaum anzutreffen sind. Schlicht und einfach, weil es da zu teuer ist. Dieses Viertel gehört zu den wenigen Orten, wo ich mich wirklich sicher fühle.

In relativ grosser Sicherheit vor Schlägen sprachen wir über den Vorfall. Angel blieb beim ersten Teil von Johns Satz hängen. «Normale Schwuchteln kann ich mittlerweile schlucken.» Vor allem bei einem Wort: Mittlerweile. John offenbare also, sagte Angel, dass er an sich gearbeitet habe. Dass er es mittlerweile schaffe, «normale Schwuchteln» nicht zu schlagen. Bravo! Normale Schwuchteln, nahmen wir an, sind Menschen mit vorwiegend männlichen Attributen minus Lippenstift. Wir beide attestierten John also einen Lernprozess, der jedoch noch nicht so weit ist, dass sich seine Faust nicht ganz von selbst gegen Körper wie meinen verselbständigt.

Der zweite Schlag kam später und war gemeiner. Ich las Zeitung und erfuhr, dass Ueli Maurer, einer unserer Bundesräte, auf Ende Jahr zurücktreten wird. Als ich mir die Pressekonferenz anhörte, schlug mir Ueli Maurer bei Minute 22 ins Gesicht. «Ob meine Nachfolgerin eine Frau oder ein Mann ist, ist mir egal. Solange es kein ‹Es› ist, geht es ja noch.»

Ich schaute die Pressekonferenz zu Ende. Keine*r der anwesenden Journalist*innen kommentierte diese Aussage. Ich googelte die nächsten Tage immer wieder dieselben Wörter: «Ueli Maurer Pressekonferenz.» Kaum eine der grossen Schweizer Zeitungen berichtete darüber, auch die NZZ schwieg. Ich schreibe hier darüber, weil die Aussage Maurers an Zynismus kaum zu überbieten ist: Später in der Pressekonferenz sprach er über seine Sorge um die Spaltung der Gesellschaft. Er benennt eine Zweiklassengesellschaft zwischen einer gut ausgebildeten Elite und Leuten, die eine weniger gute Ausbildung und weniger hohe Löhne haben. «Wir müssen eine Einheit sein, mit unterschiedlichen Leuten zusammenleben», sagte er, und: «Die Sorge, die ich habe, ist, dass wir den Minoritäten genügend Rückhalt geben, den regionalen und gesellschaftlichen Minoritäten.» Ich frage Sie, Herr Maurer: Sind wir, die weder Mann noch Frau sind, wir «Es», wir trans* und nonbinären Menschen, sind wir also keine Minderheit für Sie? Sind wir so inexistent für Sie, dass Sie sich in der Spaltung der Gesellschaft nicht um uns sorgen? Offenbar existieren wir doch, sonst würden Sie uns ja nicht eigens erwähnen, als einzige Kategorie, die Sie nicht als Nachfolge haben wollen. Herr Maurer, Ihre Aussage tut mir mehr weh als Johns Schlag.

Was seht ihr in mir, das euch dermassen bedroht?

Lieber John Unbekannt, lieber Ueli Maurer
Ich wende mich direkt an euch, die ihr verbunden seid durch eure Tat. Ihr seid nicht die ersten Männer, die mich schlugen, und ihr werdet nicht die letzten sein. Es mag erstaunlich anmuten, dass ich euch im gleichen Atemzug nenne, könntet ihr doch unterschiedlicher kaum sein: Der eine gehört zu den unterprivilegiertesten Menschen des deutschsprachigen Raumes, der andere zu den privilegiertesten. Der eine hat wohl wenige Euro am Tag, der andere verdiente die letzten fünfzehn Jahre 455 000 Franken jährlich, plus 30 000 Franken Spesen, und wird bis zu seinem Tod 220 000 Franken Jahresrente einstreichen. Was euch eint, ist das Feindbild. Was euch eint, ist der Hass auf Körper wie den meinen. Was, frage ich euch, ist so schlimm an meinem Körper, dass ihr ihn schlagen und aktiv von politischer Führung ausschliessen möchtet? Was habe ich euch getan? Was, ihr um euch schlagenden Männer, seht ihr in mir, das euch dermassen bedroht?

Machen wir uns nichts vor: Wer wirklich überlegen ist, der muss nicht zuschlagen und nicht unterdrücken. Der hält stand. Überdauert. Wer weiss, dass die eigene Position die richtige ist, bleibt ruhig, sachlich, muss nicht austeilen. Wenn ein Vater von seinem Kind getreten wird, wenn er um etwas Unrechtmässiges oder um zu viel Schokolade gebeten wird, dann schlägt der nicht zu. Der sagt klar und deutlich: Das steht dir nicht zu. Fertig.

Wieso also wird dermassen viel über «uns» gesprochen? Wieso gibt es mehr Artikel über trans* Menschen als trans* Menschen? Wieso spricht auch diese Zeitung hier mehr über als mit trans* Menschen? Und wenn, dann lässt sie nur trans* Menschen zu Wort kommen, die ihre Transition bereuen – was nur drei Prozent tun, wie neue Studien belegen, und das meistens, weil sie stark an der Diskriminierung leiden, und nicht, weil der neue Körper «nicht passt». Wieso bin ich die erste nonbinäre Person, die hier über ihre Erfahrungen schreiben darf? Let’s cut the crap. Ihr fühlt euch nicht von so was Munzelimäusligem wie einem * bedroht. Es geht um Macht. Um Macht und um die Wunden, die wir alle tragen.

Ich möchte durch diese Wunden sprechen, aber nicht als ein «Wir». Denn ich spreche nicht für «die» trans* und nonbinären Menschen. Es gibt keine Gender-Ideologie, keine Queer-Propaganda, kein Netzwerk von sich verschwörenden Einhörnern, die die Weltmacht erlangen wollen. Es gibt Menschen wie mich, die vor allem in loser Community zueinanderhalten, weil wir angefeindet, geschlagen und getötet werden. Aber ich spreche nicht für diese Community, weil es auch darin keinen Konsens gibt. Ich spreche nicht aus einer Position der Übermacht. Ihr Johns und Uelis fühlt euch von «uns» bedroht, aber dieses Wir bedroht euch gar nicht. Ich kann euch nicht bedrohen. Ich spreche nur für mich. Was also bedroht euch? Wenn nicht «Ich» es bin, dann muss es das sein, wofür ich stehe. Wofür stehe ich in euren Augen?

Ich stehe nicht für eine politische Partei oder eine euch auslöschende Macht. Ich stehe nicht für die Menschen, die sagen, dass alte weisse Männer der Kern allen Übels sind. Nein, denn Frauen wie Alice Schwarzer oder Joanne K. Rowling bekämpfen ja auch Körper wie den meinen. Ich – stehe – für – mich. Und kann es sein, dass genau das so bedrohlich ist? Dass hier ein Mensch steht, der nicht hineinpasst, der, obwohl er ständig herumgeschubst wird, wieder hinsteht, dem gesagt wird, er sei peinlich, hässlich, monströs, ausserirdisch, und der sich dennoch nicht versteckt, sondern für sich, für seine Monstrosität einsteht? Ein Biest, das keine Schöne braucht, um es in einen Prinzen zu verwandeln, sondern das weiss, dass es beides ist: das Schöne und das Biest? Was, lieber Ueli und lieber John, ist an meiner Schönheit so monströs, dass es dem einen «zu viel ist» und dem anderen Grund bietet, mir die Fähigkeit abzuerkennen, ein hohes politisches Amt zu bekleiden?

Und dann verprügelten wir das Mädchen

Lasst mich eine kleine Anekdote aus meiner Schulzeit erzählen. Ich war ja auch in der normalen, staatlichen Schule, nicht in einer Alien-Akademie. Einmal, in der vierten Klasse während der Stunde «Mensch und Umwelt», waren wir sehr unkonzentriert, und der Lehrer änderte die Sitzordnung. Es war üblich, dass wir uns während «Mensch und Umwelt» frei bewegen und in selbstgewählten Gruppen arbeiten durften. Nun verbot er das, setzte uns zu zweit an die Zweierbänke und mischte Kinder, die Unruhe stifteten, mit Kindern, die brav waren. Er drohte mit der schlimmsten Strafe: «Bleibt sitzen, sonst . . .» Das «Sonst . . .» weckte unsere ärgsten Ängste. Es ärgerte uns, aber wir hielten uns an die neue Sitzordnung und arbeiteten schweigend.

Gegen Ende der Stunde aber wagte es ein Mädchen, sich vor aller Augen zu seinen zwei Freundinnen zu gesellen. Zu dritt sassen sie zusammen und – o Sakrileg – hatten sogar flüsternd Spass! Wir alle schauten schadenfroh zum Pult des Lehrers, malten uns diabolisch die härtesten Strafen aus. Doch nichts geschah. Wir waren baff. Der Lehrer muss das Mädchen, das sich nicht an die Regeln hielt, gesehen haben. Aber er dachte gar nicht daran, uns zu bestrafen. Er wollte einfach Ruhe. Am Nachmittag wurde das Mädchen nicht von einem, sondern von einer Gruppe Jungs verprügelt. Normalerweise hielten sich alle ergebenst an die Schulhof-Maxime: Jungs verprügeln keine Mädchen. Was aber bewegte die Jungs so sehr, dass sie diese ritterliche Regel brachen?

Ich war damals nicht dieses Mädchen, aber ich bin es heute. Und ihr, John und Ueli, ihr seid die Jungs, die mich bestrafen, aus Frust, weil ich mich nicht an die Verbote halte, die wir alle mit auf den Weg bekommen haben. Dies ist keine arrogante Fremddiagnose, denn ich teile eure Frustration, John und Ueli: Ich war, wie gesagt, in der realen Situation nicht das Mädchen. Ich selbst war an diesem Schulnachmittag Anfang der nuller Jahre in der Gruppe der Jungs, die das Mädchen bestraft haben. Ich habe das Mädchen verprügelt. Ich habe es gehasst.

Und wenn ich zu euch spreche, dann tue ich das auch als einer von euch, denn auch mir wurde das männliche Geschlecht bei Geburt zugewiesen, ich wuchs als Bub auf, pubertierte und wurde ein junger Mann. Ich weiss, wie es ist, ein Mann zu sein in dieser Gesellschaft. Ich kenne das Gefühl, wenn einem gesagt wird, man sei privilegiert, aber being a man – ist heute – nennen wir’s beim Wort – fucking – hart. Ich weiss. Ich erkenne in euren Augen die Gefühle, die ich als junger Mann hatte, wenn ich eine Person sah, die sich nicht an die Regeln hielt. Einmal hätte ich selbst fast eine trans* Person angefahren. Ich bin keine Heiligenfigur. Ich kenne eure Frustration, die Wut, die Angst.

Die Frustration, dass ich mich an die Regeln halte, und diese monströse Person nicht.

Die Wut auf mich selbst: dass ich mir verbiete, mich frei zu bewegen. Die Wut, dass das unbestrafte Mädchen meine Selbstzensur und die damit verbundenen Schmerzen lächerlich macht.

Und die Angst vor der unbekannten Freiheit. Die Angst, wer ich bin, wenn ich mich nicht mehr an die vom Lehrer vorgeschriebenen Verbote halte. Die Angst vor mir selbst. Wie Nelson Mandela sagte: Unsere grösste Angst haben wir nicht davor, unwürdig zu sein, sondern vor unserem Licht, unserer Schönheit, unserer Fabulousness.

Warum werden wir alle auf das Geschlecht reduziert?

Warum, lieber John, bin ich so viel «zu viel» für dich, dass du mich schlagen musst? Ich lasse hier den Jungen antworten, der ich war, der das Mädchen verprügelte: weil der Körper, der sich frei bewegt, dir die Kluft zeigt, die du zu deiner Schönheit eingenommen hast. Der Sklavenhändler schlägt den Sklaven so unerbittlich, weil der Sklavenhändler auch der Gefangene des Sklaven ist. Er ist unterworfen im ständigen Unterwerfen-Müssen, gefangen im Fangen-Müssen. Er ist enthauptet darin, stets seine Macht behaupten zu müssen.

Wenn eure Ordnung so natürlich wäre, wie ihr glaubt, wenn Körper wie der meine so unnatürlich und nur eine Modeerscheinung sind, wie ihr sagt, warum müsst ihr dann einen solch immensen Aufwand betreiben, die alte Ordnung zu erhalten? Warum könnt ihr euch nicht zurücklehnen und die nervige Mode vorüberziehen lassen? Warum müsst ihr Körper wie meinen so bekämpfen? Und es seid ihr, die ihr mich bekämpft. Ich habe noch nie einen Cis-Mann geschlagen, weil er ein Cis-Mann ist. Ich habe noch nie gesagt, dass Cis-Männer aufgrund ihrer Geschlechtsidentität ungeeignet für irgendeine gesellschaftliche Position seien.

Ich sage das nicht, weil es die Wunde vertieft. Die Wunde, die das Geschlecht in unserer Gesellschaft ist. Die so tief ist, weil wir alle auf unser Geschlecht reduziert werden, auf existenziellste Art und Weise. Ich könnte dies anhand vieler Beispiele beweisen, ich nenne hier nur das älteste: Das Erste, was wir hören, wenn wir auf die Welt kommen, ist nicht unser Name, wir werden nicht als «Ueli» oder «John», «Sahra», «Yeliz» oder «Lee» willkommen geheissen. Wir werden nicht in unserem Schönheitsreichtum wahrgenommen, sondern nur darin, ob wir JUNGE! Oder MÄDCHEN! sind. Dabei sind wir doch so viel mehr. Und dafür stehe ich. Für dieses SOVIELMEHR. Und das bedroht euch.

Herr Maurer, haben Sie schon einmal mit einem «Es» gesprochen?

Lieber Herr Maurer
Ich wende mich nun nur an Sie, und zwar mit Neuigkeiten: Ich möchte Ihnen nichts Böses. Denn ich erlebe das Leben nicht als Kampf. Sondern als eine Schulstunde. John weiss das, er ist auf einem Lernpfad – «normale Schwule» kann er ja schon schlucken. Das Leben ist eine Schulstunde, und weil wir die aktuelle Lektion gelernt haben, können hässliche Mädchen wie ich – trotz dem «Sonst . . .»! – aufstehen. Die Lektion ist so unerhört wie einfach. Sie wird als Kitsch und Leichtsinn abgetan werden. Die Lektion ist die: Wir sind genug.

Sie, Herr Maurer, sind genug. Gut genug. Sie sind Mann genug. Sie sind wertvoll genug. Sie müssen sich nicht über andere erheben, müssen andere nicht unterdrücken, sie müssen nicht besser sein als andere. Sie sind weit genug, Sie dürfen sich von den Verboten befreien, aufstehen und sich bewegen, solange Sie dabei niemandem weh tun. Sie müssen sich «nur» selbst das Gefühl geben, dass Sie genug sind. Aber das ist der schwierigste Teil der Lektion, nicht wahr?

Sie müssen mich nicht von der Politik ausschliessen. Ich möchte Ihr Amt nicht beerben. Ich habe kein Interesse an so viel Macht, dass meine Faust von Bern nach Berlin reicht. Sie haben mir mein Menschsein abgesprochen. Sie zählen mich nicht einmal zu den «Minoritäten, denen die Mehrheitsgesellschaft Rückhalt geben muss». Ich bin gleichzeitig inexistent und überall in Ihrer Wahrnehmung. Aber – jetzt mal ganz ehrlich – haben Sie denn überhaupt schon einmal mit einem «Es» gesprochen?

Oft wird der Vorwurf gehört, dass die Männer, die Weissen, die Reichen, die Rechten gecancelt werden, nichts mehr sagen dürfen. Alok Vaid-Menon, nonbinäre*r Aktivist*in, sagt dazu: «Das ultimative Canceln ist, ausgelöscht zu werden.» Fürchten Sie sich, Herr Maurer, davor, ausgelöscht zu werden? Ich meine nicht, von einer Podiumsdiskussion ausgeladen zu werden. Ich meine: getötet zu werden? Ich, Herr Maurer, fürchte mich davor. Jeden Tag. Ich nehme jede Faust, jedes Messer, jede mögliche Waffe in meiner Nähe wahr. Und das aus gutem Grund: Letztes Jahr starben mindestens 375 geschlechterreiche Menschen in Hassdelikten. Die Dunkelziffer liegt im drei-, vermutlich im vierstelligen Bereich.

Wie viele Männer wurden im letzten Jahr von «uns» getötet, nur aufgrund ihrer Geschlechtsidentität? Ich kenne keinen Fall. Geschlechterreiche Menschen mit Migrationshintergrund haben in den USA eine Lebenserwartung von 35 Jahren. In der Schweiz gibt es, auch wegen Ihrer Partei, keine Zahlen dazu. Aber: Männer haben in der Schweiz eine Lebenserwartung von 81 Jahren.

Herr Maurer, Sie wollen mir mein Menschsein verwehren, mich nicht als vollwertiges politisches Subjekt akzeptieren. Dennoch kämpfe ich nicht gegen Sie. Ich vergebe Ihnen. Ich habe kein Interesse, zu dominieren. Ich möchte den Kreislauf von Unterliegen und Unterwerfen, von Schwarz gegen Weiss durchbrechen. Sie schicken mir Fäuste, ich küsse sie. Sie leugnen meine Existenz, ich blühe.

Herr Maurer, in Ihrer Pressekonferenz vom 30. September 2022 sagten Sie: «Wir müssen mit unterschiedlichen Leuten zusammenleben.» Und: «Man muss versuchen, die Leute zu verstehen und auf sie zuzugehen.» Gilt das nur für die Minderheiten, die auf dem Land leben und von sich sagen, dass sie nicht mehr gehört werden? Oder gilt es auch für die Minderheiten, die eher in der Stadt leben und noch nie gehört wurden?

Versuchen Sie, mit dem Herzen ihres Herzens, mich zu verstehen, Herr Bundesrat Maurer? Wissen Sie beispielsweise, warum es Leute wie mich in die Stadt zieht? In die Quartiere wie jenes, in denen ich mich mit Angel traf? Nicht weil wir das Land oder die Bevölkerung dort verachten. Sondern weil wir auf dem Land mehr Gewalt erfahren. Ich für mein Teil würde Sie gerne besser verstehen. Deshalb lade ich Sie ein, mich auf ein Bier zu treffen. Wie wäre es, wenn wir uns einmal in der Stadt und einmal auf dem Land träfen.

Ich fordere Sie nicht heraus, werfe keinen Fehdehandschuh, möchte keine politische Podiumsdiskussion, kein mediales Grossaufgebot, ich fordere nichts. Ich biete Ihnen nur an, zu zeigen, wie ich lebe, und ich würde gerne sehen, wie Sie leben. Denn, lieber Herr Maurer, ich lebe. Ich lebe irrlichternd, gerne, blumenwiesig, und ich lebe in Gefahr. Ich lebe, und leben heisst für mich, zu lernen. Und was heisst es für Sie?

Kim de l'Horizon lebt in der Schweiz und wurde soeben für den Debütroman «Blutbuch» mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.